Von Alfred Been

Seit Dienstag sind die Niederlande und Deutschland im Lockdown. Es ist ein Lockdown mit strengeren Maßnahmen als im Frühjahr. Doch gefühlt gibt es einen ganz anderen Unterschied zum März und April: Einigen Menschen scheint immer noch nicht klar zu sein, wie ernst die Lage ist. Auch die Entschlossenheit, den Lockdown gemeinsam zu überstehen und das Virus gemeinsam zu besiegen, ist weniger spürbar als im Frühjahr. Und jetzt kommt Weihnachten…

Im Frühjahr gab es einen breiten Schulterschluss der Bevölkerung im Kampf gegen das Coronavirus. Die Menschen blieben zu Hause – soweit es für sie möglich war. #StayAtHome und „Wir bleiben Zuhause!“ wurden zu bekannten Hashtags und Slogans, die in den sozialen Medien oft kreativ geteilt wurden. Jetzt mussten die niederländische und die deutsche Regierung erneut einen Lockdown anordnen. Aber es bleibt das Gefühl, dass sich die Stimmung in den Ländern verändert hat. Die Solidarität des Frühlings scheint sich teilweise in Gleichgültigkeit verwandelt zu haben. Das gilt nicht nur für „normale“ Bürger. Unternehmen stehlen sich oft aus der Verantwortung. Als ob einige sagen: „Tolle Maßnahmen. Aber die gelten nicht für mich oder uns.“

Ein Beispiel dafür sind Aktionen unterschiedlicher großer Einzelhandelsketten, die trotz der ernsten Corona-Lage weiterhin unbedingt versuchen zu öffnen. Plötzlich wird dann aus einer Parfümerie eine Drogerie. Oder in den Niederlanden versuchte der Textil-Discounter „Wibra“ auf einmal so zu tun, als sei er ein Lebensmittelmarkt. Bei allem Verständnis für wirtschaftliche Interessen: Die derzeitige Situation ist nicht geeignet, die Grenzen des Erlaubten auszuloten.

Auch die Bürger*innen loten zunehmend die Grenzen des Erlaubten aus. Angesichts der Corona-Einschränkungen, die es jetzt bereits seit neun Monaten gibt, ist das sicherlich irgendwo menschlich. Doch es zeigt sich, dass „dringende medizinische Empfehlungen“ für viele Menschen schon längst nicht mehr reichen. Ignoranz und Trotz gehen bei ihnen Hand in Hand. Vom irrsinnigen Verhalten von Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern ganz zu schweigen.

In den Niederlanden zeigen aktuelle Studien der Gesundheitsbehörde RIVM, dass mehr als die Hälfte (50,3 Prozent) der Menschen sich in häuslicher Umgebung infiziert. Weitere 22,1 Prozent der Menschen infizieren sich bei Besuchen. Weihnachten und Silvester wären daher potenzielle Brutstättne für die Verbreitung des Coronavirus.

In den Niederlanden forderte die satirische Fernsehsendung „Even tot hier“ deshalb nun auf, die Zahl der Besucher zu Weihnachten auf Null zu reduzieren. Nur allein lebende Personen sollten einen Freund oder die Familie besuchen dürfen. War das nur provozierende Satire? Oder wäre das nicht vielleicht tatsächlich die richtige Maßnahme angesichts der aktuellen Situation?

Der niederländische Gesundheitsminister Hugo de Jonge betonte kürzlich, dass „die Feiertage nicht zu Feiertagen für das Virus werden sollen“. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil äußerte sich ähnlich. Doch wie passt es dann dazu, dass zu Weihnachten sogar mehr Personen in den eigenen Haushalt eingeladen werden dürfen als ansonsten während des Lockdowns? Und das sogar drei Tage am Stück. Theoretisch mit wechselnden Gästen. Der Hashtag #WirBleibenZuhause gilt offenbar nicht für Feiertage…

Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte den Ernst der Lage deutlich darzustellen: „Wenn wir jetzt zu viele Kontakte haben und es anschließend das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben und das sollten wir nicht tun.“

Viele niederländische Bürger*innen hatten auf einen ähnlich emotionalen Appell von Ministerpräsident Mark Rutte gehofft. Der verkündete zwar den „harten“ Lockdown, doch ein emotionaler Verweis auf mögliche schwerwiegende Konsequenzen der Weihnachtstage blieb aus.
Und während fast alle Maßnahmen möglichst weit ausgereizt werden (sogar die Schulen wurden wieder geschlossen), bleibt Weihnachten weitestgehend unberührt.Es bleibt die Frage der Relation: Sollte man nicht lieber auf Weihnachtsbesuche verzichten und kann dafür später andere Maßnahmen frühzeitiger lockern?

Die Regierungen kalkulieren steigende Infektionszahlen nach den Feiertagen offensichtlich mit ein. In den Niederlanden werden Aussagen von Ministerpräsident Rutte jedenfalls so interpretiert. Das verheißt nichts Gutes. So könnten es dann vielleicht doch die Feiertage des Virus werden.